1. Die Mundart von Gabsheim und das Rheinhessische


Der Ortsdialekt von Gabsheim, einem kleinen Dorf in der Nähe von Wörrstadt, zwischen Alzey und Mainz, gehört zum Rheinfränkischen. Dieses Rheinfränkische kann bei genauerer Betrachtung noch weiter unterteilt werden, wobei dann die Mundart von Gabsheim in eine mittlere Mundart des Rheinfränkischen zwischen den ebenfalls rheinfränkischen Mundarten des Hessischen und des Lothringischen eingeordnet werden kann. Dieses mittlere Rheinfränkische wird in der Dialektforschung meist als 'Pfälzisch' bezeichnet und von vier Sprachlinien umschlossen, die in Karte 1 eingezeichnet sind.

Die erste Linie, die das Pfälzische vom Moselfränkischen abgrenzt, ist die sogenannte das-dat -Linie, die über den Hunsrück läuft. Man sagt also im Moselfränkischen dat "das" und im Pfälzischen dafür das. Nach Norden, zum Hessischen hin, gilt als Abgrenzungslinie die sogenannte fest-fescht-Linie, die das Pfälzische mit der Aussprache fescht vom nördlicher gelegenen Hessischen mit fest abgrenzt. Gegen das Ost- und Südfränkische müssen wir die sogenannte Appel-Apfel -Linie als Abgrenzungskriterium des Pfälzischen heranziehen, denn im Pfälzischen heißt es Appel "Apfel", im Ost- und Südfränkischen dagegen Apfel . Als letztes können wir im Süden das Elsässische und Lothringische vom Pfälzischen mit der Hus-Haus -Linie abgrenzen, denn man sagt im Lothringischen und Elsässischen Huss, Hus, Hüs "Haus", im Pfälzischen aber Haus .

Dieses mittlere Rheinfränkische oder Pfälzische, dessen Erstreckung auf Karte 1 zu sehen ist, reicht damit von Saarbrücken und Bergzabern im Süden bis in den Odenwald und an den Mittelrhein. Daß das Rheinhessische zum Pfälzischen gehört, mag heute ein wenig verwundern, doch man bedenke, daß große Teile Rheinhessens früher zur Kurpfalz gehörten. Auch der Mainzer Dialektdichter Friedrich Lennig bezeichnet seine 1824 in erster Auflage erschienenen Gedichte als "in Pfälzer Mundart". Wilhelm Hoffmann erwähnt in seiner 1932 erschienenen 'Rheinhessischen Volkskunde', daß aus Mainzer Sicht 'die Palz' hinter Nieder Olm beginne und daß in der Binger Gegend die Pfalzgrenze im Volksbewußtsein zwischen Gau-Algesheim und Appenheim verlaufe.
Innerhalb dieses mittleren Rheinfränkischen oder Pfälzischen, wie wir es anhand sprachlicher Eigenheiten eben umrissen haben, ist das Rheinhessische, wenn man es, wie es heute weithin geschieht, als Bezeichnung für eine bestimmte Mundart verwendet, weniger von sprachlichen als von politischen Gegebenheiten her bestimmbar. Der Name Rheinhessen, für das Gebiet zwischen Rhein und Nahe, im Süden von der ehemaligen bayerischen Rheinpfalz begrenzt, ist noch relativ jung. Nach dem Wiener Kongreß, seit 1818 ist es der offizielle Name einer Provinz (neben Starkenburg und Oberhessen) des ehemaligen Großherzogtums Hessen und später Name eines Regierungsbezirks des Bundeslandes Rheinland-Pfalz, der seit 1968 mit dem Regierungsbezirk Pfalz als Regierungsbezirk Rheinhessen-Pfalz zusammengefaßt ist. Wenn heute von 'Rheinhessisch' gesprochen wird, so meint man damit die Mundart(en) in dem Gebiet, das als Rheinhessen bekannt ist, ohne daß man genaue sprachliche Eigenheiten angeben könnte, die dieses Rheinhessische von anderen pfälzischen Mundarten abgrenzten.

Bedingt durch geschichtliche und geographische Faktoren ist das Rheinhessische keine geschlossene Mundartlandschaft, sondern es wird von zahlreichen Sprachlinien zerschnitten, die innerhalb des Rheinhessischen sowohl einen Gegensatz zwischen Ost und West, Nord und Süd wie auch einen Gegensatz zwischen Rheinfront und dem Gebiet, das wir einmal 'Hinterland' nennen wollen, begründen. Nicht nur die politische Zerstückelung unseres Gebietes vor der Zeit der französischen Revolution, sondern auch die unterschiedlichen Verkehrsströmungen in dieser alten Kulturlandschaft haben zu diesem Bild beigetragen, das die verkehrsexponierten Gebiete häufig als Innovationszentren, die verkehrsabgelegeneren Gebiete jedoch als Beharrungsgebiete älteren Sprachstandes ausweist.

Im Folgenden sollen in Beispielen einige dieser Sprachlinien, die sowohl Eigenheiten der Lautlehre, der Formenlehre wie auch des Wortschatzes behandeln, näher betrachtet werden, um die Stellung der Mundart von Gabsheim innerhalb der rheinhessischen 'Untermundarten' ein wenig herauszuarbeiten, wobei ich mich auf Erkenntnisse des 'Deutschen Sprachatlasses', des 'Deutschen Wortatlasses' und vor allem des vorzüglichen 'Südhessischen Wörterbuches' stütze. Es muß dabei gesagt werden, daß die Sprachaufnahmen, die diesen Standardwerken zugrundeliegen, vor ca. 50 ja sogar schon vor 100 Jahren stattgefunden haben und daß sie daher einen Sprachstand beschreiben, der heute nicht mehr in jedem Fall so erhalten sein muß, denn auch Mundarten und Mundartlinien unterliegen einer dauernden Veränderung. Ein genaueres Bild vom neueren Stand der Mundarten in diesem Gebiet kann man sich jetzt anhand des Mittelrheinischen Sprachatlasses machen, der von Professor Bellmann und seinen Mitarbeitern an der Universität Mainz bearbeitet wurde, und jetzt in fünf Bänden publiziert vorliegt.

Eine auffallende Eigenheit, die im Rheinhessischen einen Gegensatz zwischen Rheinfront und Hinterland konstituiert, liegt bei der Endung des Partizips Perfekt bei starken Verben (z. B. gebrochen, gedroschen, gesungen, geblieben) vor, die entlang des Rheins mit -e, im Hinterland jedoch ohne Endung gesprochen werden. Die gebroch-gebroche-Linie ist als Beispiel für dieses Phänomen auf Karte 2 eingezeichnet. Bei anderen Verben ist der Linienverlauf oft um etliche Kilometer verlagert, wie die ebenfalls eingezeichnete gedrosch-gedrosche -Linie zeigt. Der Gesamtverlauf aller Linien ist jedoch insgeamt der gleiche.

Die eingezeichneten Linien zeigen, daß Gabsheim noch zu dem Gebiet mit endungslosem Partizip Perfekt gehört. Wenn also ein Rheinhesse gebroch, gesung, (ge)blebb, (ge)funn, gedrosch sagt, so kann er nur aus dem Hinterland, also dem Raum Kreuznach, Alzey, Wörrstadt kommen, während ein Rheinhesse aus Worms, Oppenheim oder Mainz gebroche, gesunge, gebliwwe, gefunne, gedrosche sagen würde. Eine Unterdifferenzierung ergibt sich beim Partizip des Verbs "laufen", hier hat Alzey und seine südöstliche Umgebung geloff, das Hinterland gelaaf und die Rheinfront mit Worms, Oppenheim, Mainz, Ingelheim und Bingen geloffe.

Diese Zweiteilung Rheinhessens in Hinterland und Rheinfront findet sich auch in anderen Fällen: so sagt man im Hinterland Märe "Mädchen", den Rhein entlang jedoch Mädche. Als weiteres Beispiel kann die Form der 2. Person Plural bei Verben herangezogen werden, denn man sagt z. B. im rheinhessischen Hinterland ehr missen "ihr müßt" während es dafür an der Rheinfront von Worms bis Bingen ehr missd (an der unteren Nahe mischd ) heißt. Vergleichbar sind die Verhältnisse ebenfalls bei der Bezeichnung für den Hamster, hier ist das zentralrheinhessische Wort Kornworm , am Rhein findet sich dagegen Hamsder, Hamschder .

Neben diesen Beispielen sollen als nächste Gruppe Sprachlinien betrachtet werden, die eine Nord-Süd-Unterteilung des Rheinhessischen bewirken, wobei, wie Karte 3 zeigt, keine klare Teilung in eine genaue Nord- und Südhälfte, sondern eine Staffelung der Linien über den gesamten Raum beobachtet werden kann. Als Beispiele wurden aus Wortschatz und Lautlehre folgende Phänomene ausgewählt: Die Bezeichnungen für Jauche, die im nördlichsten Rheinhessen ein klares Gebiet mit dem Wort Puddel, im übrigen Rheinhessen mit dem Wort Puhl ergeben. Etwa das gleiche Gebiet, am Rhein etwas nach Süden ausgreifend, ergibt sich bei der Lautung des Wortes "Giebel", das im Norden Giwwel im übrigen Rheinhessen Gewwel lautet.

Den mittleren Teil Rheinhessens durchlaufen die Linien, die Karrn, Karre "Karren" von dem südlichen Karch trennen. Gabsheim liegt nahe an der Grenze, gehört aber zum nördlichen Teil, man sagt hier Bluggskarrn, Schubbkarrn , während die südlicheren Orte Biebelnheim, Bechtolsheim schon Karch -Formen verwenden. Jedoch verrät ein Eintrag aus dem Jahre 1843 im Handbuch des Adam Grode aus Gabsheim, daß Karch früher auch in Gabsheim bekannt gewesen sein muß, er schreibt nämlich: fier Carg voll Mist erhalten "vier Karch voll Mist erhalten".

Eine Halbierung Rheinhessens erfolgt auch durch die Lautlinie Kennel - Kannel "Rinne, Dachrinne". Der Nordwesten und mit ihm Gabsheim hat Kennel, Dachkennel, der Südosten kennt Kannel, Dachkannel . Der Südosten Rheinhessens hat auch bei femininen, attributiv gebrauchten Adjektiven die vokalische Endung erhalten. Man hört hier z. B. e guuri Fraa "eine gute Frau", während der Nordteil e guud Fraa verwendet. Weiter im Süden finden wir auf Karte 3 die Linie Kell - Keld "Kälte", der in etwa auch die Linie Muhl - Muld "Mulde" oder halle - halde "halten" entspricht. Sehr südlich ist die Bezeichnung Gnebb (Knöpfe) für "Klöße" statt des übrigen rheinhessischen Glees. Diese Beispiele, die durch zahlreiche weitere ergänzt werden könnten, mögen zur Illustration des Nord-Süd-Gegensatzes im Rheinhessischen genügen.

Kommen wir zum Schluß mit Karte 4 auf Ost-West-Gegensätze im Rheinhessischen. Eine dreifache Ost-West-Teilung des Rheinhessischen können wir anhand des Infinitivs von "haben" vornehmen. Ein Rheinhesse, im östlichen Teil Rheinhessens sagt z. B. Brauchschd kaa Ängschd se hoon "Du brauchst keine Angst zu haben", der westlich anschließende se hunn und der Rheinhesse zur Nahe hin se honn (abweichend davon heißt es im Raum Worms se hawe ). Eine Teilung in Ost- und Westhälfte ergibt sich auch bei hinweisendem "das". Hier sagt der Ostteil dess , der Westteil dass (Z. B. Dess iss er - Dass iss er). Als weitere Sprachlinien, die das östliche Rheinhessen in ost-westlicher Richtung zerteilen, sind in Karte 4 noch die Linien Hennsche - Hennsching "Handschuh" und Palme - Buggs "Buchsbaum" eingetragen.
Neben den hier aufgeführten Gegensätzen gibt es jedoch noch viele andere. So hebt sich der Raum Worms (Wonnegau) häufig vom übrigen Rheinhessischen ab, z. B. Hochzigg "Hochzeit" gegen Hochzedd , Maulroos "Pfingstrose" gegen Kesselroos, Oggsepusch "Löwenzahn" gegen Eier-, Milchpusch, Loos "Mutterschwein" gegen Mugg, Moog , sinn (3. Pl. von sein) gegen sein , Kruschd "Kruste" gegen Kroschd usw. Ebenso bildet Mainz mit den umliegenden Ortschaften häufig eine eigene Mundartlandschaft, z. B. bei Hoose "Hosen" gegen rheinhessisches Hosse. Ein weiteres interessantes Phänomen sind die zahlreichen Inseln im Rheinhessischen, oft nur auf wenige Orte beschränkt, die sich durch eine markante Mundarteigenheit vom übrigen rheinhessischen Umland abheben. Als Beispiele mögen gelten: zentralrheinhessisch Foor "Furche" umgeben von Forch , ebenso embe "veredeln" umgeben von proffe, posse, zweije, südwestrheinhessisch Mummeler "Hummel" gegen Hummel, Hummeler , südostrheinhessisch Schdinkkäwwer "Mistkäfer" gegen Meschdkäwwer u. a.
Alle diese Sprachlinien überziehen gleichsam in einem dichten Netz das Gebiet Rheinhessens und ermöglichen eine ziemlich genaue Lokalisation eines jeden Ortsdialekts. Gabsheim, das ziemlich genau in der Mitte Rheinhessens liegt, verkörpert in seiner Ortsmundart zentralrheinhessische Eigenheiten, d. h. die Mundart des rheinhessischen Hinterlandes, in Abhebung von der Mundart des Wormser, Mainzer und Kreuznacher Raumes. 

© Rudolf Post, Juli 2002